====== Abgrund ====== „Der Mensch [...] – ein Seil über einem Ab- grunde.“ (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1999, S. 13) \\ Biografisch, linguistisch, interkulturell: Vilém Flussers Begriff des Abgrunds erstreckt sich über mindestens drei bedeutende existenzielle Realitäten oder Atmosphären. Zuallererst stellt sich Flusser dem Abgrund, als Prag kurz vor der Besetzung durch die Nazis steht. Die „Katastrophe des tschechischen Volkes“, wie Flusser sie in seinem autobiografischen Text Bodenlos (1992, S. 24–25) nennt, führte zu einer Aufspaltung von Identitäten und Loyalitäten: zu einem Abgrund zwischen ihm und seinen deutschen sowie seinen tschechischen Freundinnen und Freunden. Ihm blieb nur seine jüdische „Komponente“, wodurch damals wie in weiterer Folge eine eher unbequeme und erzwungene Verzweigung dreier Ströme erfolgte. Ein eng damit verbundener lin- guistischer Abgrund wurde zentral für Flussers Übersetzungstheorie: Die repetitive, obsessive und kathartische Leistung eines Sprungs über den Abgrund, sowohl zwischen Sprachen als auch kulturellen Atmosphären, entspricht einem „Spiel mit demTod“ (Guldin, Philosophieren zwischen den Sprachen, 2005, S. 39). Flusser selbst definiert den Abgrund als ein Negativum, als eine Bodenlosigkeit. „Haben Sie den Abgrund erlebt? Sie stürzen gleichsam zuWorte.“ („Hamburg 1990“, Interview mit Hans-Joachim Lenger, in: Zwiegespräche, 1996, S. 150) \\ Der Schöpfer, der Autor, der Übersetzer „fallen auch zuWorte“; ein Gedanke, bei dem Flusser auf den hebräischen Begriff pilpul zurückgreift (siehe seine beiden Aufsätze mit demTitel „Pilpul“, in: Jude sein, 1995), um sich der Bedeutung oder der möglichenWahrheit einesTexts