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Griechentum

Aktuell wird in Europa, in Zeiten der Finanzkrise, ein stark dramatisiertes Bild der Griechen gezeichnet.Was dieses Bild mit der klassisch stilisierten Figur der Griechen im Europa des Humanismus gemeinsam hat, ist bestenfalls die Muße, verstanden als ein müßiges Nichtstun, auch immer wieder im Gegensatz zur Arbeit. In den Überlieferungen von Platon und Aristoteles sehen wir die Muße allerdings eher in Abgrenzung zum politischen Leben, wiederum ermöglicht durch die Freistellung vom Ökonomischen und einer in dieser Hinsicht existenziellen Interesselosigkeit. In heutigen Demokratien aber verwischt die Trennung von Politik und Wirtschaft, von Öffentlichem und Privatem, so diagnostiziert Vilém Flusser – ähnlich wie Hannah Arendt – im Rückblick.

Was uns laut Flusser elementar mit den antiken Griechen verbindet, ist, dass sie Zeuginnen und Zeugen eines ganz grundlegenden Umbruchs waren: einer Wende im Sinne von Karl Jas- pers’ „Achsenzeit“, in der sich über Jahrhunderte hinweg mit neuen kulturellen Techniken und Codes unsere Denkart, das menschliche Dasein geändert hat (Zwiegespräche, 1996, S. 46). Wenn Flusser uns in ein emportauchendes Menschenbild hineinstolpern sieht, würde ins- besondere die antikeVorstellung, „in der Muße, in derTheorie das Ziel des Lebens [zu] sehen“, gegenwärtig wieder anerkannt und Ökonomie als eine Infrastruktur gesehen werden, die „Politik, das heißt Freiheit und schöpferischeTätigkeit“, ermöglicht – naturgemäß „mit anderen Vorzeichen“ („Telematik: Verbündelung oder Vernetzung?“, 1991). Es würde sich um eine „Theorie im neuen Sinn dieses Wortes“ handeln, in ei- nem nicht platonischen Sinn; weniger um ein Anschauen als um ein Spielen im intersubjektiven Dialog („Private und öffentliche Räume“, in: Haarmann, Hanke undWinkler, Play it again, Vilém!, 2015, S. 311). Also keinesfalls um eine Rückkehr zu griechischen Ursprüngen. Denn in Anlehnung an Martin Heidegger wurzelt für Flusser in Griechenland eben auch das Verbrechen der Reifikation, der Verdinglichung. Dieses Verbrechen bestimmt problematische Begriffe von scheinbar entgegengesetzten Entitäten wie Körper und Geist, Individuum und Gesellschaft, Subjektivität und Objektivität,Wissenschaft und Kunst. Flusser zufolge sei dieser „Unfug“ auf- zugeben, und es gelte eine neue Anthropologie auszuarbeiten, die uns Menschen in gegenseitiger Anerkennung und als Verknotungen von verantwortlichen Relationen sieht („Gedächtnisse“, in: Philosophien der neuen Technologie, 1989, S. 47–54).

Originalartikel von Steffi Winkler in Flusseriana (2015)

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de/ancient_greece.txt · Zuletzt geändert: 2023/03/12 17:35 von steffi_winkler