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Technische Imagination

Für Vilém Flusser lässt sich der menschliche Fortschritt teilweise als die Konstruktion des Vorstellungsvermögens lesen. Wir können uns vorstellen, dass zu Beginn der Menschheitsgeschichte die Hände den Augen folgen, da das Sehen Anweisungen gibt. Die Interaktion zwischen Händen und Augen schreitet voran, um diesen primitiven Modus zu überwinden. Die Begrenzung des Sehens besteht darin, dass es nur (1) von der Oberfläche aus spekulieren kann, aber nicht von innen (phänomenal); (2) sich während einer begrenzten Zeitspanne aufrechterhalten kann (ephemer); (3) uns ein partielles Bild gibt (subjektiv). Die Grenzen des Sehens verlangen nach Stützen, nämlich dann, wenn die Hände - nach Flusser - „Bilder machen und entziffern“ (Imagination, o.J., S. 4). Die Entstehung primitiver Formen der Schrift führte künstliche Bilder ein und rekonstruierte das Vorstellungsvermögen. Die Geschichte ist eine Geschichte solcher Herstellung und Dechiffrierung von Bildern: Objekt - Piktogramm - alphabetische Schrift - technische Bilder (digital). In diesem Prozess bewegen sich die Bilder auf ihre Konkretheit zu und schreiben dieses Machen ständig neu in die Imagination ein. Wie Flusser sagt, „muss man von den Objekten zurücktreten und tiefer in die Subjektivität, in die 'Transzendenz' eindringen.“ (ebd., S. 1).

Man könnte sagen, dass für Flusser Bilder wie Zeichnungen, Schriften und technische Bilder die Bedingung der Möglichkeit für die dritte Synthese darstellen, die Immanuel Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft (deutsches Original 1781) beschreibt: das Erkennen (neben dem Begreifen, dem Erinnern). Das Sehen braucht eine Idealität als Stütze, die die obigen drei Grenzen negiert. Im Gegensatz zu Martin Heideggers Betonung der Zeit in Kant und das Problem der Metaphysik (deutsches Original 1929) führt Flusser das Sehen auf die Einbildungskraft zurück, die Imagination. Die Einbildungskraft ist nicht nur ein zeitlicher Prozess, sondern auch eine kognitive Funktion, die ständig und bewusst andere Bilder als die des Sehens in ihre Operation einbezieht. Mit Blick auf das Potenzial digitaler Bilder zeigte sich Flusser in den 1980er Jahren dennoch enttäuscht - da wir (1) noch nicht gelernt haben, unsere neue Vorstellungskraft zu nutzen und (2) technische Bilder auf dem Bildschirm zu entschlüsseln. Diese Beobachtung gilt es auch heute noch zu überprüfen.

Originalartikel von Yuk Hui übersetzt vom englischen Wiki-Artikel

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de/technical_imagination.txt · Zuletzt geändert: 2021/11/05 17:51 von 127.0.0.1