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Abstraktion

Menschwerdung ist die kultivierte Aneignung der Lebenswelt. Wir ordnen das Chaos der Welt, um die Angst zu bannen: vor der Sinnlosigkeit, dem Zerfall, dem Vergessen. Eine solchermaßen distanzierende Geste ist der Versuch einer Vereinfachung der unmittelbar vorgefundenen Komplexität. Doch die kodifizierten Muster, die spezifischen Techniken, mit denen wir die Welt erfassen, schlagen zurück und spiegeln zurück, verlieren ihre Vermittlungsfunktion als Medien und verstellen nun den Zugang zur Welt. So zerfällt die Ordnung wieder, wie Vilém Flusser schon 1957 betont; das Chaos ist nicht gebannt, sondern nur „um einen Schritt hinausgeschoben worden“ (Das zwanzigste Jahrhundert , 1957, S. 117). Die erneute Unordnung wird neu geordnet, durch ein Zurücktreten von der vorherigen Weltordnung. Dies macht für Flusser die Dynamik der menschlichen Kulturgeschichte aus: Es handelt sich dabei um eine „Serie von Rückschlägen“ und um einen „Paradigmenwechsel nach jedem Rückschlag“ (Menschwerdung, 1994, S. 253). Diese Metapher epochaler Strukturen, dieses Szenario von oszillierenden kulturellen Funktionen kommunikativer Codes, durchzieht Flussers Werk als deutlich erkennbares Denkmuster und offenbart in verschiedensten Assoziationen ein formales Bewusstsein, das gleichsam heraushebend veranschaulicht.

Flussers Abstraktionsspiel liegt dabei in der immer wieder anzupassenden, tänzelnden Einstellung zur Welt, die zunächst das menschliche Subjekt selbst ausklammert und den instrumentellen Objekten gegenüberstellt, diese dann in Bilflächen vorstellt, jene wiederum in linear fortschreitenden Texten erklärt und nunmehr deren kalkulierbare Punktelemente komputiert (Lob der Oberflächlichkeit, 1993, S. 10–11). Im modellhaften Abziehen Raum-Zeit-dimensionaler Bestimmtheiten sprunghaft dominanter Informationsträger lenkt Flusser die Aufmerksamkeit auf die strukturelle Andersartigkeit der gegenwärtig kulturprägenden numerisch generierten Bilder und deren Einfluss auf neu zu denkende Kategorien und neue Formen gemeinschaftlichen Handelns – auf das Potenzial, bewusst das Nichts zu verneinen.

Originalartikel von Steffi Winkler in Flusseriana (2015)

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de/abstraction.txt · Zuletzt geändert: 2023/03/12 17:34 von steffi_winkler